Mit offenen Augen: Wie du durch genaues Hinsehen deinen persönlichen Einrichtungsstil findest

stil expedition von laure joliet emily henderson
Fotografie: Laure Joliet | Styling: Emily Henderson

Es war einer jener Tage, an denen ich mich 23 Jahre älter als mein biologisches Alter fühlte (die Kleine hatte sich nachts wieder mal zu uns ins Bett geschlichen und es sich AUF mir bequem gemacht), und ich war gerade dabei eine Runde Kühlschrank-Tetris mit dem Wocheneinkauf zu spielen, da tönte es von oben: “Mami, hab’ mein Zimmer aufgeräumt, darf ich jetzt Fernseh schauen, biiiiitttteeee?!”
Ich schleppte mich die Treppen rauf, lies sie ihre Einhorn-Quatsch-Serie aussuchen, und plumpste dann ungeplant neben sie aufs Sofa, mein Blick fiel dabei auf die riesige Wand zu unserer Linken… “Blargh, du schon wieder”, dachte ich genervt, während ich die vier (ja, erst noch eine gerade Zahl!) Bilder anstarrte, von denen drei mir schon seit neun Jahren nicht mehr gefielen und das vierte sein Dasein in einem billig aussehenden Ikea-Rahmen fristete.

Wieso gucke ich mir Tag für Tag in meinem eigenen Zuhause (!) etwas an, das höchstens zur Entstehung eines Magengeschwürs beiträgt, und absolut “does not spark joy” (eins der wenigen Dinge, die ich von Marie Kondo aufgeschnappt habe)?

Warum fühlt sich überhaupt jemand in seinen vier Wänden nicht wohl, egal ob es bloss eine Ecke oder gleich die ganze Behausung betrifft?
In manchen Fällen, weil es so aussieht, als hätte eine Horde Messis ihre Kommandozentrale dort eingerichtet, wo man eigentlich mit einem Glas Pinot entspannen möchte. Da holen wir Marie Kondo gerne wieder ins Boot.
In anderen Fällen geht es mehr in eine “gspürsch mi”-Richtung… Man fühlt sich unwohl, weil die Umgebung nicht zur eigenen Persönlichkeit passt. “Bin ich wirklich so hoffnungslos langweilig, wie es hier aussieht??”, könnte man sich fragen. Nein!
Aber wenn dein Einrichtungsstil den Status “it’s complicated” hat, dann ist es an der Zeit, sich ein paar wesentliche Gedanken zu machen.

collage bin ich so langweilig wie mein zuhause
“Bin ich so langweilig wie mein Zuhause?”

Selbstzweifel adé: Mit Neugier und Mut zum Zuhause, das du liebst

Ganz grundlegend soll ja dein Zuhause dein “happy place” sein:  ein ganz individueller Ort, an dem du dich mal entspannt, mal energiegeladen, kreativ und rundum zufrieden fühlst. Was sich nach einer grossen Aufgabe anhört, kann auch schnell mal etwas einschüchtern. Je nach Persönlichkeit blubbern schon jetzt verschiedene Unsicherheiten unter der Oberfläche… “Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll, es sieht einfach nie perfekt aus, vielleicht gefällt es den anderen gar nicht, ich bin einfach nicht kreativ genug…”
Blödsinn.

Aus eigener Erfahrung, die mich lange in dem unbewussten Irrglauben gefangen hielt, dass Fähigkeiten entweder angeboren sind oder nicht, kann ich versichern: Dieser Gedanke ist nicht nur demotivierend und zerstörerisch, sondern er untergräbt auch das Selbstvertrauen und fesselt uns an ein eintöniges Leben innerhalb unserer Komfortzone (übrigens, falls dich solche Themen interessieren: Die amerikanische Psychologin Carol S. Dweck hat dazu die Begriffe “fixed vs. growth mindset” geprägt (fixe vs. wachsende Denkweise) und deren Auswirkungen sind beeindruckend).
Alles, wofür man sich wirklich interessiert, kann auch erlernt und beherrscht werden. Und alles, was wir zum Gestalten brauchen, bringen wir schon von Natur aus mit: unsere Intuition, Beobachtungsgabe, Neugier, einen Spieltrieb (den wir hoffentlich nicht in der Kindheit zurückgelassen haben) und Freude am Experimentieren. Ach, und Mut. Mut ist wichtig.
ABER WAS, WENN ES SCHEISSE AUSSIEHT??? Dann tröste dich damit, dass es nicht für immer scheisse aussehen wird, wenn du weiter experimentierst. Jeder wird irgendwann besser, manchmal halt bloss durch Zufall.

Bei einem Wachstumsdenken sind Herausforderungen spannend statt bedrohlich. Statt zu denken, “Oh, ich werde meine Schwächen offenbaren.” sagt man, “Wow, hier ist eine Chance zu wachsen.”

Carol S. Dweck, Psychologin

Erster Schritt: Is it love?

Was ist also der erste Schritt, bevor du deinen Lieblingsort gestalten kannst? Wie mir die Bravo schon vor unzähligen Jahren erklärte: Zuerst musst du herausfinden, was dir überhaupt gefällt. Was zieht deine Aufmerksamkeit an? Was begeistert dich, lässt deinen Herzschlag steigen?
Leider reicht es nicht, in Einrichtungsmagazinen zu blättern oder auf Pinterest jegliches Zeitgefühl zu verlieren, je systematischer die Herangehensweise, desto effizienter kommt man zum gewünschten Resultat.
Gehe mit offenen Augen durch den Tag, denn Inspiration lauert überall. Niemand ist in einem Vakuum kreativ. Wir brauchen Input von aussen, um ihn innerlich zu verarbeiten und dann etwas Neues daraus zu erschaffen, was wir nach draussen tragen können (damit auch andere davon profitieren).
Wie finden wir also heraus, was wir lieben? Durch aufmerksame Beobachtung und idealerweise systematisches Notieren unserer Erkenntnisse. Was sich wie Hausaufgaben anhört, ist eigentlich eine kurzweilige, kreative Beschäftigung, die uns mehr über uns selbst erfahren lässt, unser Auge schult und eine freudige Wertschätzung für das Schöne um uns herum kultiviert.

Fangen wir gleich mal mit einem Beispiel an.

stil expedition von laure joliet emily henderson
Fotografie: Laure Joliet | Styling: Emily Henderson

WAS MIR HIER GEFÄLLT

  • Die unerwarteten, verspielten Formen
  • Der warme Holzton, die Holzmaserung und die geraden Linien der Kommode
  • Die Messingelemente (die Kommodengriffe und der skulpturale Schmuckhalter)
  • Die vertikalen Elemente (Vase, Beine, Leuchte) werden durch horizontale ausbalanciert (Bücher, Tablett)
  • Der Einsatz unterschiedlicher Materialien (Keramik, Metall, Holz)
  • Die Balance zwischen warmen und kühlen Farben
  • Die Balance zwischen simplen, geraden Linien (die grossen Elemente wie Kommode und Wandbild), und verschnörkelten, femininen Formen (die Deko-Objekte)
  • Die Wiederholung bestimmter Farben (hellblauer Keramik-Kelch und hellblauer Buchumschlag / Pinkes Etwas (Blumen?) im Kelch und pink gestreifte Tagesdecke)
  • Wie das Wandbild diverse Farben des Interieurs vereint
  • Die Verwendung von Pflanzen/Pflanzenteilen in der Vase
  • Die Balance zwischen dunkleren oder gesättigten Farben und dem Einsatz von Weiss, damit das Gesamtbild immer noch frisch und luftig wirkt.

Und nun bist du dran: suche dir mal ein Foto eines inspirierenden Interieurs aus (aus Privathaushalten, oder auch einer Hotellobby, eines Restaurants, einer coolen Bar).

Alternativ, die gleiche Übung etwas abstrakter, mit Filmpostern, Verpackungen, Albumcovern, Parfümfläschchen, Buchumschlägen, und allem, was dir ins Auge springt. Was gefällt dir? Sind es die Farben (helle, dunkle, Erdtöne, Pastellfarben, Juweltöne, kontrastierende Farben oder monochrome?), sind es die Formen (geradlinig, ründlich, hart, weich, verschnörkelt), sind es sinnliche Texturen (glatt, weich, rau)? In welchem Verhältnis stehen die Elemente zueinander?

Wie bei allem im Leben bestimmt der Einsatz das Ergebnis: Je regelmässiger du dich der Übung im Alltag widmest, desto zügiger kannst du wertvolle Einsichten in die Gestaltung deines Zuhauses einfliessen lassen.

Darum kommt gleich eine Wochenend-Challenge für dich!

DIE-FÜNF-FOTO-CHALLENGE

Die Entdeckungsreise zu deinem persönlichen Stil

SCHRITT 1 // Erstelle eine kleine Sammlung an Fotos, die deinen Stil treffend zusammenfassen, entweder physisch oder digital, z.B. auf Pinterest. Die einzige Regel ist: sammle nur, was dich im Innersten anspricht; nichts, was dazu gedacht ist, anderen zu imponieren.

SCHRITT 2 // Jetzt mistest du aus, und es bleiben nur noch die Top-5-Bilder. Es muss dich nicht jedes einzelne Detail überzeugen, aber der generelle «Vibe» muss 100%ig zu dir passen.

SCHRITT 3 // Was begeistert dich? Notiere alles auf, egal wie allgemein oder spezifisch: marokkanische Teppiche, eine luftige Optik, kapitonierte Sessel, humorvolle Akzente, cremeweisses Leinen, Vintage Charme, helle Wände, japanische Elemente, weiche Materialien, kühle Blautöne, warme Holzfussböden, verschnörkelte Linien, Messing Leuchten, viel Kontrast, viele Pflanzen, viel Beton, geometrische Muster, buntes Glas, und… Die Optionen sind wie du siehst unendlich.

SCHRITT 4 // Jetzt kommt die Strichli-Liste! Welche Elemente kommen in den fünf Fotos am häufigsten vor?

Hurra, geschafft! Diese Übung ist der Auftakt zu einer fortlaufenden Reise deiner persönlichen Stilentwicklung, ein dynamischer Prozess, der über das passive Betrachten von inspirierenden Bildern hinausgeht. Du findest den Kern dessen, was dich wirklich anspricht und was für dich von Bedeutung ist. Der gemeinsame Nenner, den du aus diesen Bildern herausfilterst, dient als Kompass für deine Design- und Dekorationsentscheidungen. Er gibt dir nicht nur Aufschluss darüber, welche Elemente in deinem Raum präsent sein sollten, sondern mit der Zeit auch, welche du ausschliessen solltest, um Authentizität und Harmonie zu wahren.

home of ana lopez escriva guillermo shelley
Fotografie: Pablo Zamora, @pablucozam

Doch vergiss nicht: Dein Stil ist keine statische Grösse, sondern ein Ausdruck deines sich stetig entwickelnden Selbst (wenn du wüsstest, für wie viele Design-Entscheidungen meines 23-jährigen Ichs ich mich heute in Grund und Boden schäme!). Diese Challenge soll dich ermutigen, Räume zu erschaffen, die sich mit dir weiterentwickeln und flexibel genug sind, um Veränderungen deines persönlichen Stils aufzunehmen. So wird deine Umgebung zu einer echten Erweiterung deiner Persönlichkeit – einem Zuhause, das dich nicht nur heute anspricht, sondern auch zukünftig ein Spiegel deiner Entwicklung bleibt.

Also, mach dich auf den Weg, entfalte deinen einzigartigen Stil und vergiss nicht, uns auf diese spannende Reise mitzunehmen – ich freue mich darauf, gemeinsam mit dir jeden Raum in ein kleines Kunstwerk zu verwandeln.

Mit herzlichen Grüssen und der Zuversicht, dass du Grossartiges schaffen wirst!
Samantha

lichen Dank fürs Teilen!

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